„Lisa“….“Lisa, Abendbrot steht auf dem Tisch. Kommst du jetzt bitte herein?“ Georg stellte seine gepackte Reisetasche in den Flur und lugte vorsichtig durch die Haustüre in das Carport, wo er seine Siebenjährige beim Spielen mit dem Nachbarsmädchen vermutete. Zwei maskierte Gestalten bewegten sich aus dem Schatten langsam auf ihn zu. „Wir ziehen heute Abend hier ein und ihr müsst uns einen Film erlauben“ brummte die tiefgestellte Stimme Lisas während sie dazwischen kaum ein Kichern unterdrücken konnte. Marleen prustete los und beide konnten sich nicht mehr halten. Georg sah sich die beiden genauer an und musste aus vollem Hals lachen. Die beiden hatten sich als Pärchen mit Nasenmasken verkleidet und Lisa sah mit Bart und Hut und viel zu langer Jeanshose zum Schießen aus. „Hey, Mäuschen, das ist meine Hose, die habe ich gesucht“ Lisa und Marleen stellten sich bittend vor ihn. „Papa, Papa, darf Marleen heute bei uns schlafen, bitte, bitte, wir machen auch keinen Krach….“ sagte Lisa, drehte sich mit ihrem Kopf in seinen Bauch, schaute nach oben und setzte ihren Geheimwaffenblick auf, mit dem sie den Willen ihres Papas schon häufig hatte schmelzen lassen. „Ja, wenn wir einen Film schauen dürfen“ grinste Marleen. „Ach ihr Süßen. Morgen ist doch Nikolaus, da müsst ihr die Stiefel rausstellen. Du doch auch, Marleen. Ich glaube das könnt ihr euch abschminken. Außerdem bin ich nach dem Essen schon fort und Mami muss morgen zeitig in die Schule.“ Georg zog die Augenbrauen hoch und lächelte Lisa mit dem Lächeln an, welches ihr signalisierte, dass es diesmal keine Zusage vom Papi geben würde.
„Warum musst du zu Nikolaus fort, Papa?“ „Papa hat noch eine Fortbildung, mein Schatz, in Bayern“ sagte Christiane, nahm eine dampfende Brezel vom Aluminiumbackblech und reichte sie ihrem Mann. Sie zwang sich zu einem Lächeln, zu größtmöglicher Normalität. „Wo ist Bayern, Mama?“ „In Süddeutschland.“ „Und wann kommst du wieder, Papi?“ „Bestimmt in einer Woche, meine Süße. Wir telefonieren jeden Tag, das verspreche ich dir.“ „Ich will aber lieber, dass du hier bei uns bleibst, Papa.“ Georg erhielt heimlich einen traurigen Blick von Christiane. Vergeblich versuchte er, ihr einen aufmunternden zurück zu geben. Lisas Worte machten ihm das Herz noch etwas schwerer, denn er hatte sich für diesen Moment eine Unwahrheit zurechtgelegt und musste sein geliebtes Kind nun anlügen. „Weißt du, Psychologen und Ärzte müssen manchmal nachweisen können, dass sie für ihre Arbeit etwas Neues gelernt haben. Dafür bekommen wir Punkte und ich brauche noch ein paar davon bis zum Jahresende.“ „Kriegst du dann auch Noten?“ fragte Lisa. Wenn Lisa eine Idee bekam, zeigten ihre kugelrunden Augen immer für einen Moment nach oben und ihre Lippen formten sich dann zu einem schelmischen Lächeln. Sie nahm sich ihr Brotmesser, setzte sich die Brille ihrer Mutter auf und imitierte ihre Klassenlehrerin, indem sie sich vor ihrem Papa aufbaute und sich mit strengem Blick vorbeugte: „Haben Sie denn auch Ihre Hausaufgaben gemacht, Herr Doktor?“ versetzte sie das Messer wedelnd und stapfte mit dem Fuß auf. Ihre Eltern lachten, sie lachte auch und fiel ihrem Papi in die Arme.
Georg brachte, wie jeden Abend, seine Kleine ins Bett und sagte ihr, dass er sie liebte und bald wieder zu Hause sein würde. Lisa sagte ihm, dass sie ihn auch liebte und gab ihm einen Kuss. Dann ließ sich Georg von Christiane zum Bahnhof bringen. Sie schwiegen während der Fahrt. Als sie schließlich am Bahnhof parkten, fasste sie ihn am Arm und sagte mit unterdrückter Träne: „Bring mir bitte gute Nachrichten mit, hörst du? Du bist das Wichtigste, was wir haben“. „Dr. Viktorius hat gesagt, dass ich einen B12-Mangel habe“ sagte Georg und versuchte zu beruhigen „mehr wird es auch nicht werden.“ „Aber dein Neurologe hat gesagt….“ „Mein Neurologe hat einen Verdacht. Mehr nicht. Der B12-Mangel ist Fakt, der Vitamin-D-Mangel von vor einem halben Jahr ist auch Fakt und das wird alles schlüssig erklären können.“ Georg wusste aber selbst gut genug, dass das nicht wahr war.
Georg erhielt die Verdachtsdiagnose einer Motoneuronerkrankung im Oktober 2018. Seine Oberarmmuskeln hatten plötzlich angefangen zu zittern, vor allem der linke. Faszikulationen nannte das sein Neurologe. Sein Mittel- und Zeigefinger fühlten sich seltsam schwach an und die Kraft im Oberarm ließ nach. Es war niederschmetternd. Christiane, seine Mutter, seine Schwester und seine Schwiegermutter weinten sich die Augen aus. Jede Internetrecherche zu der Erkrankung endet sofort und automatisch bei dieser einen Klarheit: Muskelschwund, Rollstuhl, Tod durch Atemstillstand. Georg versuchte, zu beruhigen, zu beschwichtigen und zu relativieren aber es half nichts. Das Bild eines bald schwerbehinderten Georg, der seine exzellente sprachliche Begabung seine kräftige Körperlichkeit und Lebendigkeit abgeben und seine verbliebene Lebenserwartung auf wenige Jahre reduzieren muss, dieses Bild hatte sich in den Köpfen zementiert. „Es ist doch nur ein Verdacht", beschwor er auch seine Mutter, doch der Name war ab nun Programm: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS.
Dieser Name ist ein Arschloch. Er beschreibt das symptomatische Endprodukt eines bis heute als unheilbar deklarierten Nervenzerfallsprozesses unbekannter Ursache: Verlust der Sprache, Verlust der Beweglichkeit, unkontrollierter Speichelfluss, Nahrungsaufnahme und Toilette nur mit Hilfestellung. Lebenserwartung nach Auftreten der Symptome: 3-5 Jahre. Nur jeder fünfte schafft mehr als das. Der Name löst Entsetzen, Ohnmacht und Hilflosigkeit aus, selbst wenn es nur als Verdacht im Raum steht. Er reduziert Optionen, macht Auswege dicht, führt dich unbarmherzig auf einer einzigen letzten Straße. Deswegen ist der Name ein Arschloch.
Arschlöcher bedienen sich gerne der Strategie, falsche Namen zu führen. Namen, die angenehm klingen und sich schnell im Gehirn ihrer Opfer festsetzen. Namen, die ihren Träger als alternativlos kennzeichnen, als Person, mit der du dich am besten bald und gut anfreunden solltest. Die Werbung weiß das nur zu gut: „Hallo Herr Kaiser" hieß es lange Jahre in TV-Spots für eine gewisse Versicherungsfirma – bis die Motivationsstrategie des Konzerns für die Mitarbeiter aufflog, nämlich Sex-Parties mit Prostituierten, deren nicht unerhebliche Kosten dem Steuerzahler zugemutet wurden. Erst wenn es möglich wird, hinter den Namen zu schauen, kommen die Abgründe und das Gruseln. Meist sucht sich das Arschloch dann schnell einen neuen Namen und macht dort weiter, wo es zuvor enttarnt und gestoppt wurde. Ergo: Das Gruseln geht weiter.
Das Arschloch hinter dem Namen Amyotrophe Lateralsklerose hat allerdings ein anderes Anliegen. Es will dir keine Versicherung verkaufen. Es will dir erzählen, dass du keine Chance hast, deinem Schicksal zu entgehen und weswegen du dich mit diesem Namen arrangieren musst, bis er dir vertrauter ist als deine eigene Familie. Wer als „unheilbar" in die medizinische Literatur aufgenommen wird, hat schließlich auch einen gewissen Anspruch auf Respekt.
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