Die-agnosis 2

Georg wachte auf. Es war sein zweiter Tag nach der Aufnahme im Klinikum. Am ersten Tag hatte er einen Marathon an Untersuchungen und Befragungen von Ärzten und Therapeuten hingelegt. Immer dieselben Fragen: Speichelfluss normal? Können Sie sich ohne Hilfe anziehen? Essen schneiden? Sprechen? Treppensteigen? Luftnot? Gehen Sie mal auf den Zehenspitzen….und jetzt auf den Fersen…zeigen Sie mal Ihre Zunge. Heute endlich mal was anderes, ein EMG. Georg legte sich auf die bequeme aber kalte Liege und ließ sich von der ausnehmend hübschen Ärztin in die Untersuchung führen. „Bei einer Motoneuronerkrankung kommt es zu Spontanaktivität der Muskeln und die möchten wir jetzt bei Ihnen messen“ sagte sie und betrachtete Georgs Körperbau. „Sie haben ja durchaus ordentlich was an Muskeln mitgebracht“ nickte sie ihm anerkennend zu. Dann piekste sie ihm mit einer Nadel in den Muskel neben dem linken Schienbein und rührte darin mit Blick auf ihren Monitor herum. Das tat sie an weiteren sechs Stellen. Es war unangenehm schmerzhaft. Bei jedem neuen Piekser wiegte sie ihren Kopf und betrachtete erneut ihren Monitor. Georg spürte, dass das Ergebnis wesentlich unangenehmer war als die Schmerzen und dass es der Ärztin schwerfiel, das in Worte zu packen. „Können wir das ganze nicht als Akupunktur laufen lassen?“ flachste Georg, um das diagnostische Schweigen irgendwie aufzubrechen. Sie musste grinsen und zog die Augenbrauen dann süffisant kopfschüttelnd hoch. „Akupunktur bei einer Motoneuronerkrankung?“ Dann führte sie die Nadel in die letzte Stelle, den Trizeps des linken Oberarm ein, jener Teil, der am stärksten betroffen war. „Oh…“ entfuhr es ihr beim Blick auf den Monitor ungewollt, ihr Lächeln rutschte schlagartig aus dem Gesicht und Georg wusste, dass dies die Diagnose endgültig besiegelt hatte.

Zu Mittag war Chefarztvisite. Die Koryphäe der Neuro-Forschung erschien im Schwarm seiner sechs Mitarbeiterinnen plus einer Schwester mit Namen Bianca und stellte Georg Fragen: Speichelfluss normal? Können Sie sich ohne Hilfe anziehen? Essen schneiden? Sprechen? Treppensteigen? Luftnot? Gehen Sie mal auf den Zehenspitzen….und jetzt auf den Fersen…zeigen Sie mal Ihre Zunge. Georg bewies aufs Neue seine Fertigkeiten in den geforderten Bereichen. „Das habe ich ja alles schon gezeigt. Im Grunde habe ich nur dieses Muskelzittern im linken Arm und einen Verlust an Feinmotorik in den Fingern. Mein Hausarzt hatte schon einen B12-Mangel festgestellt, das müsste in den Unterlagen sein…“ Die Koryphäe sah fragend in seinen Schwarm und erhielt ein etwas ratloses Nicken von einer Ärztin. „Nun, das EMG-Bild ist recht eindeutig. Was Sie haben, ist eine Amyotrophe Lateralsklerose im Frühstadium. Alles andere konnten wir bisher ausschließen. Es handelt sich um einen ungeregelten Zerfall der Motoneurone, u. a. in den Vorderhornzellen der Wirbelsäule. Nach dem Wochenende werden die Blutbefunde vorliegen und wir machen gleich auch noch eine Liquorpunktion um ganz sicher zu gehen. Im Liquor befinden sich sogenannte Neurofilamente und wenn deren Grenzwert überschritten wird, ist die Diagnose endgültig abgesichert.“ „Also hat der B12-Mangel gar nichts damit zu tun? Ich hatte auch Vitamin-D Mangel…“ Die Koryphäe der Neurologie verbog die Mundwinkel als hätte ihm in seinen 40 Forschungsjahren so etwas noch niemand gewagt zu erzählen. „Legen Sie sich bitte mal aufs Bett.“ Dann schnappte er sich Georgs Fußzehen links und hielt seine Handkante dagegen. „Drücken sie meine Hand mit Ihren Zehen mal hoch.“ Georg versuchte es, stellte aber fest, dass sie keine Kraft hatten. Das hatte er noch gar nicht gemerkt und er vermied es, der Koryphäe ins Gesicht zu schauen. Im Schwarm beifälliges Nicken und eifriges Notieren. „Sie haben sicher gehört, dass die Lebenserwartung etwa bei 2-4 Jahren liegt…“ fuhr die Koryphäe fort. Georg nickte mit dem Gefühl einer Kanonenkugel in der Brust und hörte ihn mit aufmunternder Geste weitersprechen „….aber das können durchaus auch schon 6 oder 7 Jahre sein. Denken Sie an Stephen Hawking“. Georg schwieg, der Schwarm schwieg noch mehr. „Wir verordnen Ihnen Riluzol und Rasagilin.“ Nicken und Notieren im Schwarm. „Von Riluzol habe ich schon gelesen aber Rasagilin? Was ist das?“ fragte Georg „Ein Medikament gegen Parkinson, das nun auch bei ALS getestet wurde“ antwortete die Koryphäe und ließ seine Hand gekünstelt durch sein schlohweißes Haar wandern. „Ah ja, das interessiert mich. Hätten Sie da wohl eine wissenschaftliche Publikation zu? Damit ich die mal lesen kann?“ Es schien, als sei auch das in 40 Jahren noch nicht vorgekommen. Die Koryphäe zeigte sich kurz irritiert und bat dann aber Schwester Bianca, den entsprechenden Artikel für Georg zu kopieren. „Sie sollten das Wochenende nutzen“ sagte die Koryphäe schließlich mit jovialer Geste. „Lassen Sie sich von der Schwester befreien und gehen Sie in die Stadt auf den Weihnachtsmarkt. Ich sehe Sie ja dann nochmal am Montag.“

Georg ging zehn Minuten später in Begleitung einer Ärztin aus dem Schwarm über den Gang zur Liquorpunktion. Er betrachtete die anderen Mitpatienten: Schlaganfälle, Parkinson, MS. Manche trugen einen Helm, konnten nicht sprechen, machten laute unartikulierte Geräusche um ihre Bedürfnisse anzumelden. Fast keiner konnte gehen. „Mir geht es viel besser als denen, aber ich habe eine viel kürzere Überlebenszeit?“ fragte er sich tonlos. Er hörte seine Gedanken nicht mal als Flüstern, nur die Kanonenkugel in seiner Brust wog zentnerschwer. Die Ärztin sah ihn mitfühlend an. Er war wohl nicht der erste, den sie mit der Diagnose weiter begleiten musste. „Sie sind Psychologe?“ versuchte sie ihn abzulenken. „Ja, in eigener Praxis. Voller Kassensitz.“ „Da haben Sie bestimmt gut zu tun. Ich war mal in der Psychiatrie tätig, in Kempten.“ Georg horchte auf. „In Kempten? Ist das hier in Nähe?“ „Ja, warum fragen Sie?“ Georg überlegte kurz selbstkritisch, ob er ihr diese Geschichte wirklich preisgeben wollte, doch der Reiz, sich eine Weile von der Kanonenkugel abzulenken, war einfach zu groß. „Waren Sie im August 2014 da tätig?“ „Da hatte ich gerade dort angefangen.“ „Können Sie sich an einen langhaarigen Rechtsanwalt erinnern, der damals dort ein paar Tage auf der Geschlossenen bleiben musste?“ Die Ärztin lachte über diese überaus obskure Beschreibung und verneinte. In der Akutpsychiatrie sei sie nie gewesen.

Sie waren nun in dem Zimmer angekommen, wo die Liquorpunktion durchgeführt wurde und Georg behielt den Rest der Geschichte doch lieber für sich. Schwester Bianca war bereits dort und bat ihn, sich auf die Liege zu setzen, den Oberkörper frei zu machen und sich möglichst weit nach vorne zu beugen. Georg hatte sich im Internet bereits informiert und wusste, dass nun Schmerzen auf ihn zukamen. Er keuchte heftig, als er die Nadel in der Wirbelsäule spürte während die Schwester ihn mit einigen ablenkenden Fragen überzog. Die Nadel ging nicht durch und die Ärztin versuchte es ein zweites noch schmerzhafteres Mal. „Ich komme da einfach nicht durch“ murmelte sie und ziemlich hilflos fragte Schwester Bianca „Spüren Sie denn etwas?“ Georg konnte sich den Konter „Ja, ein Stechen im Rücken“ gerade noch verkneifen. Kopfschüttelnd fragte ihn die Ärztin, ob sie es noch ein drittes Mal versuchen solle oder ob das Ganze nicht besser unter einem Röntgengerät gemacht werden solle. „Da kann ich besser sehen, wo die Nadel am besten eingeführt werden muss.“ Georg pustete kräftig durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Röntgenstrahlen? Ich dachte, die schädigen das Gewebe…“ „Ja, richtig, aber ich weiß sonst auch keinen besseren Weg. Ihre Wirbelkörper sind wirklich sehr kräftig…“ Georg stellte sich vor die Ärztin und sah sie von oben herab an. „Sie wollen also ernsthaft meine erkrankten Vorderhornzellen noch zusätzlicher Belastung durch Röntgenstrahlung aussetzen?“ Eine Antwort wartete er gar nicht ab. „Nein, sorry, aber ich lehne das ab. Entweder Sie können am Montag auf normalem Wege das Liquor ziehen oder ich verweigere mich der Untersuchung“ erklärte er und registrierte befriedigt von Schwester Bianca ein heimliches zugezwinkertes Bravo.

Bevor Georg die Station kurz vor Mittag verließ, wollte er sich unbedingt noch die Ärztin schnappen um sich über ein paar Fragen aufklären zu lassen. Die war gerade mit Schwester Bianca im Stationszimmer „ALS wird in der erblichen Form durch ein defektes SOD1-Gen ausgelöst. Da Sie aber nicht die erbliche Form sondern die sporadische haben, gehören Sie zu den Patienten, bei welchen das Fehler-Gen unbekannt ist. Es gibt aber eine Reihe von Forschungsprojekten, die dies zu erforschen suchen. Deswegen wünschen wir uns auch, dass Sie uns Blutproben für die Datenbanken zur Verfügung stellen.“ „Aber kann es denn nicht sein, dass es andere Gründe als genetische gibt?“ „Ausgeschlossen“ sagte die Ärztin kopfschüttelnd, „das ist zwar immer mal in der Diskussion aber alles nicht wissenschaftlich fundiert“. Georg sah, wie Schwester Bianca die Augenlider höhnisch in die Höhe hob, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. "Aber das Riluzol wirkt doch auf das SOD1-Gen. Warum verordnen Sie mir das, wenn es gar nicht mein Fehler-Gen ist?" "In sieben Prozent der sporadischen Fälle hilft es. Die Hoffnung stirbt zuletzt, Herr Kranz." "Dr. Kranz!" entfuhr es Schwester Bianca, die sich ob der irritierten Mimik ihrer Vorgesetzten achselzuckend beeilte hinzuzufügen: "Soviel Zeit muss sein."

Georg dankte der Ärztin und suchte den Weg nach draußen. Vor dem Aufzug kam ihm die Koryphäe plötzlich entgegen, grüßte nickend „Guten Morgen“ und lief an ihm vorbei. „Irre“ dachte sich Georg, „eben verkündete er mir noch sein Todesurteil und jetzt kann er sich schon nicht mehr an mich erinnern.“

 

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