Die-agnosis 3

Die frische Dezemberluft tat ihm gut, er atmete sie tief ein und lief zur nächsten Haltestelle um in die Stadt zu fahren. In seinem Hirn hämmerten unaufhörlich Fragen. So lange er zurückblicken konnte, hatte er sich Schwierigkeiten erfolgreich gestellt, aber der heutige Tag war eine Zäsur. Wie sollte er Christiane die Nachricht mitteilen? Wie sollte Lisa davon erfahren – und wann? Wie lange würde er noch als Psychotherapeut arbeiten können? Wenn erstmal die Zunge von der Krankheit erfasst wird, wird das Sprechen nicht mehr für diesen Job ausreichend gut funktionieren. Und wenn Gerrit das erfährt….diesen Gedanken wollte er gar nicht zu Ende denken. „Es muss einen Weg geben. ES MUSS! Wenn es jemand schafft, einen Weg zu finden, dann du!“ wandte sich seine innere Stimme freundlich aber bestimmt an ihn. „Ja“ dachte er nickend, „wer, wenn nicht ich? Niemand anderes wird diese Aufgabe übernehmen können, ich bin für mich selbst alleine verantwortlich. Es müssten aber doch auch andere nach Auswegen aus einer ALS gesucht haben. Eine Erkrankung, von der niemand weiß, wie sie entsteht und die in so unterschiedlichen Verläufen und Formen auftritt, ist ein ungelöstes Rätsel.“ Er blieb stehen. Die Mittagssonne war nun kräftig und verband sich harmonisch mit seiner inneren Stimme. „Es ist keine Krankheit. Es ist ein Rätsel. Ich darf genau jetzt, genau heute nicht aufgeben.“

In der Stadt lief er zunächst am Weihnachtsmarkt vorüber und besorgte sich in einer Apotheke B12-Tabletten. Dann setzte er sich in ein Restaurant und bestellte sich das Beste aus der Karte. Fleisch! Er hatte seit Jahren vegetarisch gelebt und seinen häufigen Heißhunger mit Soja-Buletten gestillt. Aus ethischen Gründen, nicht etwa, weil ihm Fleisch nicht schmecken würde. Und wegen Lisa, die genau wie Christiane noch nie Fleisch mochte und – seit sie wusste, dass Fleisch von Tieren stammt und sie Tiere unendlich liebte – ihm im Alter von vier Jahren ein Fleischverbot auferlegt hatte. „Das kommt alles von meiner Lieblingskuh und die darfst du nicht töten!“ war sie überzeugt. „Im Fleisch stecken B-Vitamine, die mir vielleicht schon länger fehlen“ dachte er und stellte sich vor, wie er Lisa damit keinesfalls überzeugen können würde. Auch zweifelte er im nächsten Moment wieder an der Sinnhaftigkeit, denn auf die Idee, sich mit fehlenden Vitaminen zu versorgen dürften andere ALS-Patienten ja auch schon gekommen sein. Mit genüsslicher Vorfreude auf das T-Bone-Steak fühlte er sich kurz wie Anthony Hopkins alias Professor van Helsing in „Bram Stokers Dracula“, der vor der Jagd auf den Vampir erstmal ordentlich essen wollte. Er startete eine Internetrecherche mit seinem Handy und fühlte die Kontrolle in seine Gedanken zurückkehren. Die Angst und der Schock der Diagnose verflogen zusehends. Vielleicht muss man allgemeiner suchen, vielleicht ist ALS ja das falsche Suchwort – viel zu verseucht mit den resignativen Negativkommentaren. Er war schon beim Nachtisch, als er schließlich auf folgenden Artikel aus dem Jahre 2014 stieß: „Pflanzenextrakt bietet Hoffnung für Motoneuronerkrankte“ mit einem Hinweis auf eine Pressemitteilung zweier Universitäten. Es handelte sich um eine Untersuchung zu Quercetin, einem Wirkstoff, der an SMA-Patienten erfolgreich eingesetzt wurde und der sich besonders in Holunderblüten befindet. Georg befühlte seinen wild zuckenden Oberarmmuskel und schloss seine Augen auf Dreiviertel: „Ich werde dich besiegen“ dachte er. „Ich habe Gerrit Kühne, einen unheilbar Kranken besiegt und jetzt werde ich dich, eine unheilbare Krankheit besiegen.“

Gestärkt verließ er das Restaurant und sah den Dom vor sich. „Wenn ich den schaffe, dann steht es noch nicht so schlecht um mich“. Er bahnte sich den Weg durch den Weihnachtsmarkt. Je mehr er den süßlich-fettigen Duft der Buden einsog, desto stärker packte ihn das Heimweh. Im Stimmengewirr glücklicher Menschen, die sich begrüßten und sich zuprosteten wünschte er sich plötzlich nichts sehnlicher, als bei Christiane und Lisa zu sein. In der Nähe des Domportals war eine weiträumige Umzäunung aufgebaut und dahinter eine große Krippe mit einem lebenden Ochsen und einem Eselsbaby, das es sich neben einer Heuraufe gemütlich gemacht hatte. Er schnappte sich sein Handy und filmte die Szene, sendete die Datei an Christiane und erhielt wenig später eine Sprachnachricht von Lisa, die sich sooooo sehr über diese Nachricht freute. Ihre Stimme löste ein paar Tränen bei ihm aus, so dass er lieber seinem Plan folgte, den Dom zu besichtigen und dann zu besteigen.

Früher war er mal ein guter Sportler mit einer Bärenkondition. Im Grunde war sein Körper geradezu für regelmäßigen Sport gebaut worden, doch das lag nun schon ziemlich lange zurück. Etwa nach einem Drittel des eng geschwungenen Treppenaufgangs waren seine Beine so schwer, dass er sich es noch einmal überlegen wollte. Allerdings ging der Abstieg über eine andere Treppe, man musste also erst oben ankommen, um wieder herunter zu gehen. Er mochte sich die überlegen grinsenden Gesichter der ihm entgegenkommenden Besucher nicht vorstellen, an denen er sich mit der Scham des Aufgebens hätte vorbeischleichen müssen, würde er nun umdrehen. Wenig später stand eine hechelnd um Luft ringende Frau an einem Aussichtsfenster, das machte ihm wieder Mut. Es ging ihm also nicht allein so.

Oben mit wirklich letzten Kräften angekommen, machte er nach einer ausgiebigen Pause für seine puddingschwachen Beine zweimal den Turmrundgang und genoss die Aussicht. Doch beim Blick nach unten auf den Weihnachtsmarkt schossen ihm jäh aufblitzende Erinnerungen wie Flashbacks durch den Kopf. Damals, im September 2014, als Gerrit aus dem dritten Stock seiner Wohnung sprang. Damals, als sie mit nächtelangen Recherchen es mühevoll schafften, ihm vor Gericht seinen Wahnsinn und seine Gewalttätigkeit nachzuweisen. Er zog sein Handy und klickte jenen Artikel an, der die Wahrheit aufgedeckt hatte, doch in der Sekunde klingelte es. Christiane fragte, wo er gerade sei und wie die Untersuchungen verlaufen seien. Nicht jetzt und nicht hier, dachte sich Georg und erklärte ihr, dass noch nichts feststehe. Sein Heimweh packte ihn bei der Stimme seiner geliebten Frau, doch er biss auf die Zähne, um sachlich zu bleiben und nicht traurig zu klingen. „Die Lungenfunktion war bei 100%“ versicherte er und war froh, diesbezüglich sogar die Wahrheit sagen zu können. Dann drängte sich Lisa ans Telefon ihrer Mutter. „Papa, ich vermisse dich so. Wann kommst du endlich wieder nach Hause?“ „Ganz bald, mein Mäuschen, ganz bald. Was hat dir der Nikolaus gebracht?“ Lisa erklärte ihm stolz, dass sie den dritten Band von Harry Potter bekommen hatte und schon hundert Seiten gelesen habe. „Weißt du was ich glaube, Papa?“ „Was denn, mein Herz?“ „Ich glaube, mein Patronus ist ein Wolf.“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Weil ich mein Rudel brauche und weil ich ganz schön zubeißen kann, wenn mein Rudel in Gefahr ist.“ Georg verstand den Hinweis seiner Tochter und spürte sein Herz fast zerspringen.

 

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