Die-agnosis 4

Zurück in der Klinik lag der Artikel zur Wirkung von Rasagilin bei ALS-Erkrankungen auf seinem Bett. Im Ergebnis stellte der Artikel eindeutig fest, dass Rasagilin nicht hilfreicher für die Untersuchungsteilnehmer war als das für die Kontrollgruppe benutzte Placebo. „Also wie jetzt?“ dachte sich Georg, „dieser Professor weiß, dass das Zeug nicht nützt und verschreibt es mir dann aber doch?“ Mit wenig Appetit setzte er sich an den Tisch um sein Abendessen zu sich zu nehmen und beschloss, die Koryphäe am nächsten Tag dazu zu befragen. Im Bett liegend quälte er sich durch das Sonntagabendfernsehangebot und spürte neben der körperlichen Entspannung erstmals auch, wie seine Oberschenkel zu zucken begannen. „Verdammt“ dachte er, „es hilft ja doch nichts“, ging in den Aufenthaltsraum der Station und rief Christiane an, um ihr die Diagnose mitzuteilen. Beide weinten zunächst am Telefon, glücklicherweise lag Lisa schon im Bett. „Die haben mich hier längst abgeschrieben“ berichtete er dann seiner Frau, „von denen bekomme ich keine Hilfe. Kein B12 trotz des Berichtes von Dr. Viktorius aber dafür ein Medikament, das erwiesenermaßen nicht bei ALS hilft. Die wollen morgen noch Liquor und Blutproben für genetische Analysen nehmen und danach kann ich gehen und sterben“ knurrte er. Dann erzählte er ihr etwas über Quercetin und den neuen Mut, den er gespürt hatte. Über Rasagilin und über seinen Willen, sich der Erkrankung nicht zu beugen. „Ja, das musst du, Georg, Liebster, das musst du. Wir brauchen dich, du kannst jetzt nicht einfach gehen, nicht nach alldem wo wir uns durchgekämpft haben!“

Am nächsten Tag erhielt er vor der Visite eine SMS von seiner Frau: „Hallo Liebster. Ich bin hundemüde, weil ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe und im Internet herumrecherchiert habe. Du musst ab sofort viele Antioxidantien zu dir nehmen, hörst du? ALS hat was mit oxidativem Stress zu tun. Ich bin höllisch frustriert, weil im Internet nur ALS- Fälle mit tödlichem Ausgang zu finden sind. Bisher hat das niemand überlebt, aber du wirst der erste sein. Du MUSST!“ Die Türe öffnete sich und die Koryphäe trat ein, umschwirrt von seinem Schwarm und Schwester Bianca. Ob er das Rasagilin und das Riluzol gut vertrage, wollte die Koryphäe wissen. Georg erläuterte ihm, dass er es befremdlich gefunden habe, im Artikel festzustellen, dass Rasagilin bei ALS als wirkungslos befundet wurde und er es doch einnehmen solle. „Nun“ sagte die Koryphäe freundschaftlich lächelnd „die Hoffnung stirbt zuletzt, nicht wahr? Wir versuchen wirklich alles.“ „Ja, das tun Sie bestimmt. Soll ich denn auch meine Muskeln trainieren um den Muskelschwund aufzuhalten?“ „Bloß nicht“ krächzte eine Ärztin aus dem Schwarm „das wäre das völlig falsche Signal an die Muskeln“. „Danke“ nickte Georg pseudoverbindlich „und, soll ich denn mehr Antioxidantien zu mir nehmen?“ Die Koryphäe nickte geradezu verächtlich. „Natürlich sollten Sie das, Herr Kranz.“ "Dr. Kranz" hauchte die Stationsärztin ein und ließ dafür eine bissige Stille von etwa 2,5 Sekunden über sich ergehen. „Aber warum hat mich bisher niemand darüber aufgeklärt, dass ALS mit oxidativem Stress einher geht? Und warum habe ich kein B12 verordnet bekommen?“ Schwester Bianca grinste ihm heimlich zu und nickte dabei leise. Ein Schrei vom Flur unterbrach das Gespräch, ein Patient war ausgerutscht und lag am Boden. Die Koryphäe nutzte die kurze Unruhe im Schwarm und reichte Georg mit verbindlicher Miene die Hand. „Sie sind noch im Frühstadium der Erkrankung, da sollten Sie an einer Studie teilnehmen. Bei Ihnen in der Nähe ist das neurologische Forschungszentrum von Frau Professor Heil. Grüßen Sie sie von mir." Er verließ das Zimmer, Schwester Bianca wollte hinter ihm schließen, lief aber nochmals zurück zu Georg und sagte leise: „Wenn Sie eine Alternative suchen, empfehle ich Ihnen das Umweltmedizinische Zentrum. Es ist gar nicht so weit von hier. Ich bringe Ihnen später die Adresse noch. Aber ich kann das hier nicht laut verbreiten und Sie haben das auch nicht von mir, ok?“ „Ok. Habe ich noch nie gehört. Ist das was esoterisches?“ Sie lachte und verneinte. „Wir sehen uns nachher noch zur Liquorpunktion“ sagte sie und setzte sarkastisch hinterher „diesmal wird’s bestimmt klappen.“ Tatsächlich ging diesmal die Nadel butterweich in den Spinalkanal und die Ärztin war glücklich.

Georg räkelte sich in den Sitzen des Bahnhofscafes und suchte auf dem Handy im Internet nach Antworten auf Fragen, die er aber im Grunde nicht einmal formulieren konnte. Das SOD1-Gen wird durch Ungleichgewichte im Kupfer- und Zinkhaushalt beschädigt. Aber einen Zinkmangel hatte weder Dr. Viktorius noch die Klinik gefunden und ob Kupfer überhaupt gemessen wurde, wusste Georg gar nicht. Er würde seine Ernährung auf antioxidative Nahrung umstellen müssen und fand dazu äußerst viele Anregungen. Außerdem wurde ihm an jeder Ecke ein Link mit Nahrungsergänzung angepriesen, von Resveratrol, Q10, B-Komplex über Alpha-Liponsäure bis hin zu Curcumin. Alles Wundermittel, wenn man dem glauben wollte, was da stand. Was ihm am wenigsten schmeckte: Er würde seinen geliebten Hang nach Fastfood, abendlichem Wein und morgendlichem Kaffee aufgeben müssen, denn jetzt – so dachte er sich – musste jede Nervenzelle irgendwie gerettet werden. Aber wie sollte er diesen Dschungel an Informationen ordnen? Wenn er nach Hause kommt, würde Christiane bestimmt auch schon einen Schreibtisch voller Informationen aufgehäuft haben. Wer sollte ihm dabei helfen können? Es kann doch nicht sein, dass alle ALS-Patienten dieser Welt sich da selbst durcharbeiten müssen. Oder doch? In seiner Jackentasche kramte er nach seinem Geldbeutel um sich im Bewusstsein der ersten Schritte in die richtige Richtung einen grünen Tee zu bestellen. Dabei fischte er auch Schwester Biancas Zettel heraus. „Umweltmedizinisches Zentrum“ brummte er und besuchte die Website. „Mitochondrienmedizin – nie gehört“ dachte er sich weiter und erinnerte sich an eine Information, dass das SOD1-Enzym für die Gesundheit der Mitochondrien verantwortlich sei. „Aber das ist das Enzym, ich dachte, das Problem ist das Gen“… Georg fühlte sich überfordert. „Wir behandeln chronische Erkrankungen des Nervensystems, wie MS, CFS und ALS“ las er weiter. „Natürlich tut ihr das, damit macht ihr wohl auch das meiste Geld, was?“ Georg lachte böse in sich hinein und schickte sich an, die Website wieder – und zwar für immer – zu verlassen, als sein Blick auf den Begriff „Serotonin“ fiel. Als Psychotherapeut hatte er recht häufig damit zu tun, denn viele Patienten ließen sich neben den Gesprächen auch medikamentös mit Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) behandeln oder verweigerten solche Medikamente bedingungslos. "Wenn die Darmflora nicht funktioniert, kommt es zu einem Ungleichgewicht in der Serotonin-Versorgung des Gehirns. Das meiste Serotonin wird im Darm und nicht im Gehirn produziert. Wenn Depressionen und Ängste das Leben lähmen, muss die Ursache nicht zwangsläufig im Gehirn liegen, sondern durchaus auch im Darm." Georgs Gehirn weigerte sich zunächst, diese Aussage zur Kenntnis zu nehmen. Er tat also das, was ihm in der Uni beigebracht worden war: Nach den Quellen zu suchen, nach wissenschaftlich abgesicherten Forschungsergebnissen. Überraschenderweise wurden ihm diese unterhalb des Artikels auch präsentiert: „Hmmm, wieso weiß ich als promovierter Psychotherapeut eigentlich nichts darüber? Das ist ja wissenschaftlicher als ich dachte“ gab Georg innerlich zu. Er lehnte sich zurück und gedachte, sich nun wirklich den grünen Tee zu bestellen – soll ja antioxidativ wirken, hatte er kurz vorher gelesen. Darmprobleme hatte er aber seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt, sein Darm hatte ihm bisher umfassend und bereitwillig zur Seite gestanden, so sehr er sich auch mit Fast-Food, Alkohol und Kaffee um solche und andere Probleme beworben hatte. Sein Zug wurde gerade als um vierzig Minuten verspätet ausgerufen. Er fackelte nicht lange und rief im umweltmedizinischen Zentrum an. Tatsächlich erhielt er nach ausgiebiger Erläuterung seiner Situation einen Termin für den Vormittag des nächsten Tages.

 

 

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