Die-agnosis 5

Christiane war keineswegs begeistert von der spontanen Entscheidung ihres Mannes. "Muss das sein, so kurz vor Weihnachten?" Georg ließ sich auf keine Diskussionen ein. "Ich bin hier her gefahren, um Lösungen zu finden. Von der Klinik habe ich keine bekommen. Ich glaube, Weihnachten wird für uns alle entspannter, wenn wir wenigstens eine Idee haben, wie es weiter geht." "Okay, dann habe ich aber auch einen Auftrag für dich. Bitte regle deine Verhältnisse für den Fall deines Todes, so wie der Professor es em." "Ich soll mein Testament machen?" "Genau, Und einen Abschiedsbrief für Lisa."

Georg hatte nicht das geringste Interesse daran, den Anregungen seiner Frau zu entsprechen. Ihm war überhaupt nicht nach Sterben zumute, im Gegenteil fühlte er sich eher wie ein Jäger, der seiner Beute zu Leibe rücken möchte. Das Anliegen seiner Frau erschien ihm wie Defätismus und dennoch versprach er ihr, ihre Wünsche zu erfüllen - in der stillen Hoffnung, eine Lösung mit nach Hause zu bringen, die sowohl Testament als auch Abschiedsbrief entbehrlich machen würde.

Am nächsten Tag betrat er die Praxis pünktlich und wurde zur ersten Untersuchung in einen engen Raum gebracht. Hier sollte er auf die Ärztin, Frau Dr. Kreuzer, warten. Er ließ seinen Blick durch ein Bücherregal an der Seitenwand wandern. Thorwald Detlevsen, Schicksal als Chance. Dale Carnegie, Sorge dich nicht, lebe. Das habe ich vor 25 Jahren gelesen, dachte er, und das soll die Lösung sein? Dieses unwissenschaftliche, tendenziöse Eso-Geschwafel? Eine blasse und sommersprossige Frau Anfang 60 mit zopfgebundenem hellroten Haar erschien und wies ihn mit strengem Blick und schmalen Lippen an, sich gerade hinzusetzen. "Bitte erzählen Sie mir nichts, ich möchte völlig unbeeinflusst bleiben und weiß auch nichts über Sie", sagte sie und kramte aus zwei Koffern mehrere kleine Fläschchen hervor. In den Koffern befanden sich mindestens 200 davon. Dann drückte sie ihm je einen Metallstift in dje linke und rechte Hand. Von den Stiften ging ein Kabel ab , das sie in ihren Laptop steckte. Bedächtig begann sie, mal ein Fläschchen und mal mehrere gleichzeitig in die Hand zu nehmen und mit der anderen Hand Georgs Arm zu berühren. Was auf den Fläschchen draufstand, konnte und sollte er wohl auch nicht lesen. Ok, ich bin hier falsch, überlegte er enttäuscht und fühlte sich so einsam wie noch nie zuvor.

Eine dreiviertel Stunde dauerte die Prozedur. Überraschend teilte sie ihm sofort das Ergebnis mit: "Quecksilber ist nicht Ihr Problem. Aber Sie sollten sich dringend die Weisheitszähne ziehen lassen, darunter sind Nicos." "Bitte was ist dort?" "Fettig-degenerative osteolytische Kiefernekrosen, die nannte man früher Nicos. Sie senden entzündliche Zytokine aus, die im Gehirn Schäden anrichten. Die müssen aus dem Kiefer herausgefräst werden. Außerdem sind Sie sehr anfällig für WLAN, Laptop, Handystrahlung und DECT-telefone. Davon rate ich Ihnen dringend Abstand zu wahren." Vor Georgs geistigem Auge erschienen die nächtlichen stundenlangen Sitzungen zur Abfassung von Schriftsätzen für die Gerichtsverfahren gegen Gerrit und die vielen Telefonate. Aber er wollte dieser Frau ohnehin nicht glauben. Sie kündigte einen Bericht an, Georg bedankte sich artig und ging hinaus.

Als nächstes sollte er von Dr. Körner gesehen werden. Dr. Körner hatte eine recht wuchtige Figur, ein Kerl, dem man eine Neigung zu gutem Essen sofort ansehen konnte. Er nahm sich über zwei Stunden Zeit für Georg, untersuchte ihn gründlich allgemeinmedizinisch und neurologisch, stellte Fragen und notierte jede Antwort. Georg war diesmal positiv überrascht vom enormen Wissen und der offenkundigen Bereitschaft, Georg wirklich helfen zu wollen. "ALS ist eine Multisystemvergiftung, sagte er. Es kommen viele Variablen in Frage, umweltmedizinisch, immunologisch,genetisch." "Und warum hat mir das bisher kein Arzt so gesagt?" "Weil sie es entweder nicht besser wissen oder nicht besser wissen wollen." "Das verstehe ich nicht", bekannte Georg. Dr. Körner strich sich durch sein lichtes Haar und seufzte. "Wissen Sie, die medizinische Ausbildung in Deutschland ist absolutes Mittelmaß. Den Studierenden wird beispielsweise erzählt, dass Aluminium nicht schädlich ist. Dann erlebe ich hier, wie Patienten mit Aluminiumwerten erscheinen, die 90fach über dem Referenzwert liegen. Die können teilweise nicht mehr geradeaus gehen und haben eklatante kognitive Probleme. Wir geben Ihnen Chelate zur Ausleitung und mit zunehmender Entgiftung erholen sie sich. Das ist unsere Grunderfahrung und das ist kein Wunder, denn es ist nachgewiesen, dass Aluminium die Giftigkeit bzw. die Entzündlichkeit anderer Stoffe in den Zellen potenziert, Vor allem Quecksilber. Also Frage: was soll diese Verleugnung?" Der spricht meine Sprache, dachte Georg und fasste wieder Mut. "Dieses ….Chelat ….bekomme ich das auch?" "Ja, heute Nachmittag. Sie wirken auf mich stabil, genug, dass wir damit jetzt schon anfangen können." "Stabil?" Dr. Körner grinste. "Manche Patienten müssen erstmal zellulär aufgebaut werden, denn so eine Chelattherapie ist beanspruchend für den Körper. Es kommt manchmal mehr Gift aus den Zellen als das Chelat auffangen kann." "Was ist denn das Chelat?" "Es gibt drei Standardchelate: DMSA, DMPS und EDTA. Die haben die Fähigkeit, sich im Interstitium zwischen den Zellen anzusiedeln und Schwermetalle herauszuholen. Die gebildeten Komplexe scheiden Sie dann mit dem Urin aus. Dabei werden auch gute Stoffe wie Zink oder Schwefel oder Selen herausgeholt, weil das Chelat natürlich nicht unterscheidet. Diese Stoffe substituieren wir. Deswegen rezeptiere ich Ihnen auch Nahrungsergänzungsmittel sobald ich Ihre Blut- und Urinanalysen vorliegen habe."

Georg spürte, dass er aus dieser Sitzung soviel wie möglich heraus holen sollte. "Welchen Stellenwert hat Stress?" Dr. Körner wusste nicht sofort, worauf Georg hinaus wollte. "Ich meine damit psychische Dauerüberlastung über fast sechs Jahre im Kampf gegen einen psychopathischen Rechtsanwalt und die Institutionen, die er auf seiner Seite hatte." Georg versuchte, die Geschichte so sachlich wie möglich zusammen zu fassen und zeigte Dr. Körner jenen Zeitungsbericht, der Gerrits wahre Natur aufdeckte. Dr. Körner las und brummte einige Auszüge halblaut mit: "Immenstadt... aha... Fünf Kinder angegriffen... Eieiei... In Kempten in der Psychiatrie... Und ein Strafverfahren... Junge junge und der darf noch als Anwalt arbeiten?" "Jetzt nicht mehr" grinste Georg, "aber ich denke, es muss einen Einfluss auf die Entstehung der ALS gehabt haben."  Dr. Körner nickte. "Legen Sie sich mal hin", sagte er und legte Georg nochmal die Blutdruckmanschette an. Dann bat er Georg, ausführlich die Ohnmacht gegenüber den Ämtern und Gerichten zu beschreiben.Es dauerte etwa 40 Sekunden, bis Georg erste Tränen in den Augen hatte. Dr. Körner nahm ein weiteres Mal den Blutdruck ab. "150 zu 90. Vor einer Minute war es 110 zu 70". Georg war  baff. "Unregulierte Stresserfahrungen entzünden den Körper" erläuterte der Arzt. "… Und ich habe das sechs Jahre ununterbrochen gehabt, oh Gott". Georg fasste noch mehr Vertrauen und fragte ihn nach der Untersuchungsmethode von Frau Dr. Kreuzer. "Oh, da habe ich beste Erfahrungen mit gemacht. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, ich glaube aber, dass es funktioniert, weil sich ihre Analysen meistens im Nachhinein als richtig herausstellen." "Aber ich hatte acht Amalgamfüllungen, die schon in der Jugend teilweise ohne Schutz wieder aufgebohrt und neu befüllt wurden. Das kann ja gar nicht sein, dass ich davon völlig unbelastet bin." Dr. Körner zuckte mit den Schultern. "Heute Nachmittag erhalten Sie Chelate und stabilisierende Infusionen. Sie erscheinen mir stark genug, dass wir sofort damit beginnen können. Morgen bringen Sie eine Urinprobe mit und dann sehen wir ja am Wochenende anhand der Laborergebnisse, ob Ihr Körper auch Quecksilber abgibt." Georg bedankte sich für die wohltuende Sitzung und wandte sich zur Türe. "Ach, Herr Dr. Kranz, und noch etwas..." setzte Dr. Körner nach, "seien Sie bitte vorsichtig mit dem Namen ALS. Es handelt sich um eine Die-agnosis." Er schrieb das englische Wortspiel auf einen Zettel und reichte ihn Georg. "Ihre Umwelt wird in der Diagnose etwas unumstössliches oder unveränderbares sehen und es könnte als Lethargie oder Aktionismus auf Sie übergreifen."

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