Im Oktober 2019 begann ich, bei einem Facharzt für Allgemeinmedizin Apheresen in Anspruch zu nehmen. Bei einer Apherese läuft das Blut durch einen Filter und wird dabei von Giftstoffen gereinigt. Nach jeder Behandlung waren die ständig faszikulierenden Muskeln für mehrere Tage beruhigt bis die Zellen erneut genügend Toxine in den Kreislauf abgegeben hatten. Das Bild, dass meine Erkrankung auf einer dauerhaft laufenden Exposition mit neurotoxischen Stoffen im Blut beruhen würde, stand natürlich in Opposition zur ALS-Theorie vom Untergang der motorischen Nerven im Spinalkanal. Andererseits konnte es nicht schlüssig erklären, warum das Gift ausgerechnet meine motorischen Nerven angreift, alle anderen Nerven aber nicht.
Schließlich kam es zu der Überlegung, dass wir es eventuell gar nicht mit einem neurologischen Problem zu tun haben. Anfang Mai 2021 befundete ein Labor Autoantikörperbildung gegen Acetylcholinrezeptoren der motorischen Endplatte (Bild 1) und erhärtete somit den Verdacht auf das Vorliegen einer Autoimmunerkrankung namens Myasthenia Gravis *. Die symptomatischen Verbesserungen, die ich für einige Tage nach jeder Apherese erlebte, beruhten auf dem Ausspülen eben dieser Antikörper.
Hinsichtlich ihrer Aggressivität zitiere ich aus dem Artikel "Current treatment, emerging transitional Therapies, and new therapeutic targets for autoimmune Myasthenia gravis" (2016): "The majority (85%) of patients have circulating antibodies targeting the skeletal muscle AchR. These antibodies are predominantly of the isotypes IgG1 and IgG3 and are directly pathogenic (...)" {4}
Diese Antikörper wirken also unmittelbar pathogen auf den Skelettmuskel, so dass dieser erschlafft und erlahmt - ähnlich zur ALS. Eine einfache Blutprobe kann den Antikörper identifizieren und man hätte in der Patientengruppe mit Myasthenia Gravis sogar eine 85% Trefferwahrscheinlichkeit.
Der Erkrankungsgipfel bei Männern ist für ALS und MG identisch, nämlich die 5. Lebensdekade. Beide Erkrankungen sind charakterisiert von Heterogenität der Verläufe: 9 Subgruppen für MG werden in dem o. a. Artikel beschrieben. Chronisch schwere Verläufe mit generalisierter Muskelatrophie gibt es auch bei MG, in meinem Fall würde man mich heute im MGAF Score IV-A klassifizieren, hätte ich die MG-Diagnose erhalten. Symptomatische Schwankungen im Tagesverlauf sind ebenso typisch für MG wie Faszikulationen und wurden auch von mir anamnestisch vermerkt.
Das klinische Bild der (lt. Arztbrief "beginnenden") ALS hätte dementsprechend auch als beginnende MG gedeutet und darauf hin überprüft werden können. Es wäre dann neben dem immunologischen Profil als zweite sattelfeste Infragestellung einer gesicherten ALS-Diagnose aufgeworfen worden. Mit dem differenzialdiagnostischen Hinweis auf die Möglichkeit einer Autoimmunerkrankung/MG wäre der verfügbare therapeutische Rahmen um Jahre früher genutzt worden und ich wäre heute möglicherweise nicht beatmungspflichtig und weniger gelähmt.
*Der Übersichtlichkeit halber gehe ich vorläufig nicht näher auf die im Bild ebenfalls befundeten beta1/2-adrenergen Autoantikörper ein, deren Nachweis die Diagnose eines CFS nahelegt.
{4} Guptill JT, Soni M, Meriggioli MN. Current Treatment, Emerging Translational Therapies, and New Therapeutic Targets for Autoimmune Myasthenia Gravis. Neurotherapeutics. 2016 Jan;13(1):118-31. doi: 10.1007/s13311-015-0398-y. PMID: 26510558; PMCID: PMC4720661.
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